Buch: Taijiquan. Die Kunst der natürlichen Bewegung / Christel Proksch
ArtikelNr.: B110
Der lange vergriffene Klassiker von Christa Proksch neu aufgelegt.
Gebundene Ausgabe: 199 Seiten
Gebundene Ausgabe: 199 Seiten
Der lange vergriffene Klassiker von Christa Proksch neu aufgelegt. Christel Proksch hat Mitte der Siebziger Jahre ihr eigenes Leben in abenteuerlicher Weise verändert. Ihr Weg führte sie quer durch Asien und schließlich zum Studium der chinesischen Sprache und Kalligraphie nach Taiwan. Dort lernte sie das Taijiquan aus der Schule Cheng Man Chings kennen, und sie war eine der ersten, die dieses Kulturgut nach Deutschland mitbrachte. Mit ihrer Begeisterung und ihrem charismatischen Unterricht öffnete sie für tausende den Weg zur "Königin der Kampfkünste". Ihr Leben ist ein Übersetzungswerk zwischen den Kulturen Asiens und Europas. Ihr beständiges Reisen, ihr Lesen, ihre Körperkunst, und ihr fortwährendes Lernen bilden einen einmaligen Schatz an Erfahrung und Wissen. Sie lebt ihre Leidenschaft und ist damit bis in ihre beginnenden 80er Jahre ein Vorbild für ihre Schüler und Enkelschüler. Qigong und im besonderen das sehr schöne Fantengong ergänzen das Wissen dieser Grand Dame des Taiji.
Gebundene Ausgabe: 199 Seiten
Mein Weg zum Taijiquan als Danksagung an Laozi, Kleist und meinen Vater. Vor fast 50 Jahren schenkte mir mein Vater die einundachtzig Sprüche des Alten Weisen zur Konfirmation. Mit seiner steilen JahrhundertwendeHandschrift schrieb er hinein: ... zum Nachdenken und Begreifen nicht jetzt, sondern nach vielen Jahrzehnten des Lebens und Schaffens... Es war übrigens das Jahr, in dem der zweite Weltkrieg ausbrach.
Ich weiß noch, daß ich beim Lesen das Gefühl hatte, nichts zu verstehen und doch zu ahnen, was gemeint sei. Zumindest trug ich das Inselbüchlein immer mit mir herum. Und als ich nach dem Krieg wieder an der Haustür meiner Eltern auftauchte, hatte ich nichts mehr bei mir, als das kleine, zerfledderte Tao Te King. Und noch heute hat es - ebenso zerfleddert - einen Ehrenplatz auf meinem Bücherbord.
Dreißig Jahre später zog es mich, zusammen mit einem Freund, in den fernen Osten. Wir wollten die hiesige komplizierte Welt für lange Zeit verlassen. Überall in Südostasien trafen wir auf chinesische Kultur, auf chinesische Schriftzeichen. Eine neue Welt: wieder nichts zu verstehen und unwiderstehlich sich davon angezogen zu fühlen. Wir konnten gar nicht anders, als uns zu entschließen und Chinesisch zu lernen. Wenn wir morgens vor dem Unterricht in Taiwan irgendwo draußen in einem Frühstückslädchen unsere Sojamilch tranken, kamen uns immer Scharen von Menschen entgegen. Sie mussten trotz aller Herrgottsfrühe schon etwas getan haben, denn sie gingen augenscheinlich nach Hause. Wir fragten und bekamen zur Antwort: Die machen morgens immer Taijiquan mit dem unüberhörbaren Unterton der Verwunderung, wie man etwas so Selbstverständliches erfragen könne. Neugierig gemacht, suchten wir bald einen der bezeichneten Plätze auf und fanden etwas vor, was ganz unglaublich schien: große Gruppen von Menschen bewegten sich im Zeitlupentempo so weich und fließend, als schwämmen sie in der Luft. Das war einfach faszinierend. Ob man das selber auch lernen könnte? Natürlich, Ihr müsst Euch nur einen Lehrer suchen, hieß es. Beim Lernen stellte sich heraus, daß es viel schwieriger schien, als Laozi zu verstehen oder sich chinesische Zeichen einzuverleiben. Ich begriff nichts, konnte auch keine einzige Bewegung im Kopf behalten, aber dennoch zog es mich unwiderstehlich jeden Morgen vor Sonnenaufgang wieder zum Taiji Platz. In der Gruppe versuchte ich, die Bewegungen einfach mitzumachen, wie man ein unbekanntes Lied mitsingt, immer etwas nachklappend. Das gab ein gutes Gefühl. Trotzdem endete der erste Versuch mit dem bedauernden Gefühl: Das ist nun doch zu fremd; du bist wohl zu alt dafür... Nach einem längeren Aufenthalt in Deutschland kehrte ich nach Taiwan zurück, um weiter chinesisch zu lernen. Ich startete einen neuen Versuch mit TaiJiQuan und hatte das große Glück, auf einen Meister zu treffen, der mir einzelne Bewegungsabfolgen zeigte; diese allerdings immer nur höchstens zwei mal. Und wenn ich noch einmal nachfragte, sagte er freundlich aber bestimmt: denk selber nach. Wenn ich nur gewusst hätte, worüber ich nachdenken sollte! Aber inzwischen kamen mir die Erfahrungen zugute, die ich bei der Umstellung auf Chinesisch und damit auf ein fremdes Schriftsystem gemacht hatte. Auf einen kurzen Nenner gebracht: es war nicht durch Nachdenken und Verstehen sondern nur über Nachmachen erlernbar. Wir sind gewöhnt, dass unsere Schrift sich aus wenigen schnell erlernbaren Buchstaben zusammensetzt. Lernt man chinesisch, muss man sich darauf einstellen, daß jedem Wort ein anderes Zeichen zugeordnet ist. Das wiederum besteht aus vielen einzelnen Strichen, die nur dann unerlernbar erscheinen, wenn man annimmt, daß man sich deren Reihenfolge für jedes Zeichen neu merken muss. Sehr bald stellt man fest, daß es nur ganz wenige Grundstriche gibt (im Chinesischen nur fünf!), die in bestimmten Verbindungen immer wieder in der gleichen Form auftauchen. Da es für die Schreibweise der Striche strenge Regeln gibt, stellt sich im übenden Nachzeichnen ein Rhythmus ein, mit dem man sich oft schneller vertraut macht als mit der inhaltlichen Bedeutung des Zeichens. Für die Taiji-Bewegungen gilt das Gleiche: in strenger Gesetzmäßigkeit werden wenige Grundelemente miteinander verbunden und erhalten je ihre Gestalt und ihren Inhalt in unendlichen Variationen von Zusammensetzungen. Aussage und Schönheit der Form verbinden sich dann miteinander, wenn die Grundregeln des inneren Rhythmus auf das Genaueste eingehalten werden. Ebenso wie die Kalligraphie eine präzise Reihenfolge der einzelnen Striche vorgibt, die sich nach langem Üben fliessend miteinander verbinden, führen die festgelegten Bewegungsabfolgen der Taiji-Form zu einer ununterbrochenen Choreographie in Bewegung. In aller Langsamkeit und Sanftheit offenbart sich eine ungewöhnliche innere Stärke, und in aller Gleichförmigkeit erlangt der Einzelne seinen Stil, seine Ausdruckskraft.
Mir wurde klar, daß ich eine neue Körpersprache lernte, deren Sinn ich anfangs höchstens erahnen konnte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als nachzuahmen, was ich vorgemacht bekam. Jedes VerstehenWollen der einzelnen Abläufe war hinderlich. Genau das fiel mir wie jedem kopflastigen Westler anfangs natürlich sehr schwer. Aber es war einfach faszinierend schön , Grund genug, es lernen zu wollen. Bald merkte ich, daß die Taiji-Bewegungen eine ganz andere Körperhaltung erfordern, als ich sie gewöhnt war. Immer hieß es: los-lasssen, sinken, aber gleichzeitig aufrichten. Doch keiner erklärte mir, wie ich das machen sollte. Die ersten Taiji-Fotos aus dieser Zeit ergeben für mein heutiges Verständnis ein geradezu jämmerliches Bild: angespannt von Kopf bis Fuß, hängen alle Schwerpunkte des Körpers an der falschen Stelle . Ein Wunder, wie ich mich dabei auch noch wohlfühlen konnte! Nach meiner Rückkehr aus Taiwan fiel mir der Aufsatz von Heinrich von Kleist über das Marionettentheater wieder ein. Er hatte neben Laozi zu meinen literarischen Jugendlieben gehört; also zog ich ihn in einer ruhigen Stunde aus dem Bücherschrank. Meine innere Erregung steigerte sich von Zeile zu Zeile: es war die vollendetste Darstellung vom Taijiquan, die ich mir vorstellen konnte! Auf einmal wurde mir klar, was mein chinesischer Meister gemeint hatte mit der Aufforderung : lass Dich zum Himmel ziehen und zur Erde sinken; konzentriere Dich auf das Dan tian (Körpermitte); jede Bewegung nimmt da ihren Anfang. Das hiess,auf die Kleistsche Marionette übertragen, die Seele mit dem Schwerpunkt des Körpers in Übereinstimmung zu bringen. Die ersten ungelenken Schritte auf diesem Weg gaben mir die TaiJiBewegungen vor, und zwar ganz konkret vorerst in der kör-perlichen Einübung, die sich jeder willensgesteuerten Bewegung versagte. Nun hatte ich hintenherum doch eine Erklärung für meine Faszination gefunden, die sich in allen Dimensionen des Kleistschen Marionettentheaters bestätigte. Und darüber hinaus schloss sich über die Vermittlung des Taijiquan nach Jahrzehnten wie mein Vater vorausgesagt hatte der Kreis zu Laozis Worten:daß Schwaches das Starke besiegt und Weiches das Harte besiegt, weiß jedermann auf Erden, aber niemand vermag danach zu handeln. (. Spruch)
Nach einigen Jahren fing ich an, das Taijiquan an Freunde weiterzugeben. Europäer brauchen ein Mindestmaß an Erklärungen und Vorstellungen, die aus ihrem eigenen Kulturkreis stammen. Da bot sich das MarionettenModell an und bestätigte ausnahmslos für jede im Taijiquan vorgegebene Bewegung: bei einem Minimum an Kraftaufwand verbindet sich ein Maximum an Sicherheit und Beweglichkeit mit Gelassenheit und Ruhe. Menschen jeden Alters können sie wiedergewinnen und dadurch angstfreier mit Gewalt und Aggressionen umgehen.
Keineswegs sollte aus der Schilderung meines Weges zum Taiji die Hoffnung herausgelesen werden, daß dadurch die Welt verändert werden könne. Ich bin trotzdem überzeugt davon, daß sich innerhalb der letzten Jahrzehnte Wege zu einem neuen Bewußtsein anzubahnen beginnen, die in die Richtung dessen weisen, was von Jean Gebser Integrales Bewußtsein genannt wird. Diese Wege sollte man auch im Zusammenhang mit Be-wegung sehen, in der sich immer ein Verhalten zur Welt äußert. Insofern weist die inzwischen weitgreifende Adaption des Taijiquan im Westen über eine Regeneration und Veränderung der Einzelpersonen hinaus und bildet eine der vielfältigen Verbindungslinien zwischen den beiden Kulturen Chinas und des Abendlandes.
Der vorliegende Versuch kann nichts anderes sein als eine Art von Übersetzungshilfe, durch die eine Möglichkeit geschaffen werden könnte, einen größeren Kreis an unserer Entdeckungsreise in bislang nicht erkannte Zusammenhänge teilhaben zu lassen. Da sie in engem Bezug zu dem Marionettentheater von Heinrich von Kleist stehen, möchte ich seinen vollständigen Text hier wiedergeben. Er sagt mehr als tausend Worte von mir.
Christl Proksch
Lesen Sie die Rezension zu diesem Buch im Taijiquan & Qigong Journal
Gebundene Ausgabe: 199 Seiten
Mein Weg zum Taijiquan als Danksagung an Laozi, Kleist und meinen Vater. Vor fast 50 Jahren schenkte mir mein Vater die einundachtzig Sprüche des Alten Weisen zur Konfirmation. Mit seiner steilen JahrhundertwendeHandschrift schrieb er hinein: ... zum Nachdenken und Begreifen nicht jetzt, sondern nach vielen Jahrzehnten des Lebens und Schaffens... Es war übrigens das Jahr, in dem der zweite Weltkrieg ausbrach.
Ich weiß noch, daß ich beim Lesen das Gefühl hatte, nichts zu verstehen und doch zu ahnen, was gemeint sei. Zumindest trug ich das Inselbüchlein immer mit mir herum. Und als ich nach dem Krieg wieder an der Haustür meiner Eltern auftauchte, hatte ich nichts mehr bei mir, als das kleine, zerfledderte Tao Te King. Und noch heute hat es - ebenso zerfleddert - einen Ehrenplatz auf meinem Bücherbord.
Dreißig Jahre später zog es mich, zusammen mit einem Freund, in den fernen Osten. Wir wollten die hiesige komplizierte Welt für lange Zeit verlassen. Überall in Südostasien trafen wir auf chinesische Kultur, auf chinesische Schriftzeichen. Eine neue Welt: wieder nichts zu verstehen und unwiderstehlich sich davon angezogen zu fühlen. Wir konnten gar nicht anders, als uns zu entschließen und Chinesisch zu lernen. Wenn wir morgens vor dem Unterricht in Taiwan irgendwo draußen in einem Frühstückslädchen unsere Sojamilch tranken, kamen uns immer Scharen von Menschen entgegen. Sie mussten trotz aller Herrgottsfrühe schon etwas getan haben, denn sie gingen augenscheinlich nach Hause. Wir fragten und bekamen zur Antwort: Die machen morgens immer Taijiquan mit dem unüberhörbaren Unterton der Verwunderung, wie man etwas so Selbstverständliches erfragen könne. Neugierig gemacht, suchten wir bald einen der bezeichneten Plätze auf und fanden etwas vor, was ganz unglaublich schien: große Gruppen von Menschen bewegten sich im Zeitlupentempo so weich und fließend, als schwämmen sie in der Luft. Das war einfach faszinierend. Ob man das selber auch lernen könnte? Natürlich, Ihr müsst Euch nur einen Lehrer suchen, hieß es. Beim Lernen stellte sich heraus, daß es viel schwieriger schien, als Laozi zu verstehen oder sich chinesische Zeichen einzuverleiben. Ich begriff nichts, konnte auch keine einzige Bewegung im Kopf behalten, aber dennoch zog es mich unwiderstehlich jeden Morgen vor Sonnenaufgang wieder zum Taiji Platz. In der Gruppe versuchte ich, die Bewegungen einfach mitzumachen, wie man ein unbekanntes Lied mitsingt, immer etwas nachklappend. Das gab ein gutes Gefühl. Trotzdem endete der erste Versuch mit dem bedauernden Gefühl: Das ist nun doch zu fremd; du bist wohl zu alt dafür... Nach einem längeren Aufenthalt in Deutschland kehrte ich nach Taiwan zurück, um weiter chinesisch zu lernen. Ich startete einen neuen Versuch mit TaiJiQuan und hatte das große Glück, auf einen Meister zu treffen, der mir einzelne Bewegungsabfolgen zeigte; diese allerdings immer nur höchstens zwei mal. Und wenn ich noch einmal nachfragte, sagte er freundlich aber bestimmt: denk selber nach. Wenn ich nur gewusst hätte, worüber ich nachdenken sollte! Aber inzwischen kamen mir die Erfahrungen zugute, die ich bei der Umstellung auf Chinesisch und damit auf ein fremdes Schriftsystem gemacht hatte. Auf einen kurzen Nenner gebracht: es war nicht durch Nachdenken und Verstehen sondern nur über Nachmachen erlernbar. Wir sind gewöhnt, dass unsere Schrift sich aus wenigen schnell erlernbaren Buchstaben zusammensetzt. Lernt man chinesisch, muss man sich darauf einstellen, daß jedem Wort ein anderes Zeichen zugeordnet ist. Das wiederum besteht aus vielen einzelnen Strichen, die nur dann unerlernbar erscheinen, wenn man annimmt, daß man sich deren Reihenfolge für jedes Zeichen neu merken muss. Sehr bald stellt man fest, daß es nur ganz wenige Grundstriche gibt (im Chinesischen nur fünf!), die in bestimmten Verbindungen immer wieder in der gleichen Form auftauchen. Da es für die Schreibweise der Striche strenge Regeln gibt, stellt sich im übenden Nachzeichnen ein Rhythmus ein, mit dem man sich oft schneller vertraut macht als mit der inhaltlichen Bedeutung des Zeichens. Für die Taiji-Bewegungen gilt das Gleiche: in strenger Gesetzmäßigkeit werden wenige Grundelemente miteinander verbunden und erhalten je ihre Gestalt und ihren Inhalt in unendlichen Variationen von Zusammensetzungen. Aussage und Schönheit der Form verbinden sich dann miteinander, wenn die Grundregeln des inneren Rhythmus auf das Genaueste eingehalten werden. Ebenso wie die Kalligraphie eine präzise Reihenfolge der einzelnen Striche vorgibt, die sich nach langem Üben fliessend miteinander verbinden, führen die festgelegten Bewegungsabfolgen der Taiji-Form zu einer ununterbrochenen Choreographie in Bewegung. In aller Langsamkeit und Sanftheit offenbart sich eine ungewöhnliche innere Stärke, und in aller Gleichförmigkeit erlangt der Einzelne seinen Stil, seine Ausdruckskraft.
Mir wurde klar, daß ich eine neue Körpersprache lernte, deren Sinn ich anfangs höchstens erahnen konnte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als nachzuahmen, was ich vorgemacht bekam. Jedes VerstehenWollen der einzelnen Abläufe war hinderlich. Genau das fiel mir wie jedem kopflastigen Westler anfangs natürlich sehr schwer. Aber es war einfach faszinierend schön , Grund genug, es lernen zu wollen. Bald merkte ich, daß die Taiji-Bewegungen eine ganz andere Körperhaltung erfordern, als ich sie gewöhnt war. Immer hieß es: los-lasssen, sinken, aber gleichzeitig aufrichten. Doch keiner erklärte mir, wie ich das machen sollte. Die ersten Taiji-Fotos aus dieser Zeit ergeben für mein heutiges Verständnis ein geradezu jämmerliches Bild: angespannt von Kopf bis Fuß, hängen alle Schwerpunkte des Körpers an der falschen Stelle . Ein Wunder, wie ich mich dabei auch noch wohlfühlen konnte! Nach meiner Rückkehr aus Taiwan fiel mir der Aufsatz von Heinrich von Kleist über das Marionettentheater wieder ein. Er hatte neben Laozi zu meinen literarischen Jugendlieben gehört; also zog ich ihn in einer ruhigen Stunde aus dem Bücherschrank. Meine innere Erregung steigerte sich von Zeile zu Zeile: es war die vollendetste Darstellung vom Taijiquan, die ich mir vorstellen konnte! Auf einmal wurde mir klar, was mein chinesischer Meister gemeint hatte mit der Aufforderung : lass Dich zum Himmel ziehen und zur Erde sinken; konzentriere Dich auf das Dan tian (Körpermitte); jede Bewegung nimmt da ihren Anfang. Das hiess,auf die Kleistsche Marionette übertragen, die Seele mit dem Schwerpunkt des Körpers in Übereinstimmung zu bringen. Die ersten ungelenken Schritte auf diesem Weg gaben mir die TaiJiBewegungen vor, und zwar ganz konkret vorerst in der kör-perlichen Einübung, die sich jeder willensgesteuerten Bewegung versagte. Nun hatte ich hintenherum doch eine Erklärung für meine Faszination gefunden, die sich in allen Dimensionen des Kleistschen Marionettentheaters bestätigte. Und darüber hinaus schloss sich über die Vermittlung des Taijiquan nach Jahrzehnten wie mein Vater vorausgesagt hatte der Kreis zu Laozis Worten:daß Schwaches das Starke besiegt und Weiches das Harte besiegt, weiß jedermann auf Erden, aber niemand vermag danach zu handeln. (. Spruch)
Nach einigen Jahren fing ich an, das Taijiquan an Freunde weiterzugeben. Europäer brauchen ein Mindestmaß an Erklärungen und Vorstellungen, die aus ihrem eigenen Kulturkreis stammen. Da bot sich das MarionettenModell an und bestätigte ausnahmslos für jede im Taijiquan vorgegebene Bewegung: bei einem Minimum an Kraftaufwand verbindet sich ein Maximum an Sicherheit und Beweglichkeit mit Gelassenheit und Ruhe. Menschen jeden Alters können sie wiedergewinnen und dadurch angstfreier mit Gewalt und Aggressionen umgehen.
Keineswegs sollte aus der Schilderung meines Weges zum Taiji die Hoffnung herausgelesen werden, daß dadurch die Welt verändert werden könne. Ich bin trotzdem überzeugt davon, daß sich innerhalb der letzten Jahrzehnte Wege zu einem neuen Bewußtsein anzubahnen beginnen, die in die Richtung dessen weisen, was von Jean Gebser Integrales Bewußtsein genannt wird. Diese Wege sollte man auch im Zusammenhang mit Be-wegung sehen, in der sich immer ein Verhalten zur Welt äußert. Insofern weist die inzwischen weitgreifende Adaption des Taijiquan im Westen über eine Regeneration und Veränderung der Einzelpersonen hinaus und bildet eine der vielfältigen Verbindungslinien zwischen den beiden Kulturen Chinas und des Abendlandes.
Der vorliegende Versuch kann nichts anderes sein als eine Art von Übersetzungshilfe, durch die eine Möglichkeit geschaffen werden könnte, einen größeren Kreis an unserer Entdeckungsreise in bislang nicht erkannte Zusammenhänge teilhaben zu lassen. Da sie in engem Bezug zu dem Marionettentheater von Heinrich von Kleist stehen, möchte ich seinen vollständigen Text hier wiedergeben. Er sagt mehr als tausend Worte von mir.
Christl Proksch
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