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Entspannung und Taiji

23.07.2024 09:27

Entspannung

Ein Gastbeitrag von Axel Dreyer

Entspannung besteht im Taiji aus 3 Phasen: Lockern, sinken und leer werden ( Song – Chen – Kong ).
Wir haben eine Vorstellung davon, was es heißt, uns zu lockern, wir bauen Anspannung ab, setzen weniger äußere Kraft ein usw. Äußerliche Entspannung entsteht dadurch, dass der angespannte Geist nachgibt und sein Korsett um den Körper lockert. Aber es kann Jahre dauern, bis diese Lockerheit tiefe Schichten des Körpers durchdringt. Immerhin ist dies ein erster nützlicher Schritt, um Festigkeit und Steifheit im Körper zu reduzieren.

Was mit sinken gemeint ist, ist schon etwas schwerer zu verstehen. Während lockern mit äußerer, muskulärer Entspannung zu tun hat, geht es beim Sinken und Leer-Werden auch um innere, emotionale und mentale Entspannung – die Energie beruhigt sich und der Geist sinkt auf eine tiefere Ebene. Wir können uns entspannen, wenn wir uns sicher und geborgen fühlen, wenn wir vertrauen können oder wenn wir nicht das eine sagen und etwas anderes tun. Negatives, egal in welcher Form, schwächt unser Geist-Energie- und Körpersystem und führt zu Verspannungen. Je öfter und nachhaltiger wir es schaffen, uns auf der Hawkins-Skala (siehe Kapitel „Bewusstsein“) in den Bereichen von 200 und darüber zu etablieren, desto mehr formt sich in uns ein stabiles Zentrum, das manche auch Hara nennen (mehr dazu im Buch „Hara“ von Karlfried Graf Dürckheim). Wirklich entspannt in uns ruhen, werden wir letztendlich erst, wenn wir uns über weite Strecken im Einklang mit unserem Höheren Selbst befinden, der individuellen Ausprägung des Höchsten Geistes in uns. Die Taiji-Entwicklung verläuft sanft und Schritt für Schritt. Jedes Mal, wenn wir ein ungünstiges Muster, sei es ein Bewegungs- Gedanken- oder Verhaltensmuster loslassen, trägt das zur Konsolidierung des stabilen Zentrums bei, was wiederum ein weiteres Lösen vorbereitet.

Der Prozess des Sinkens beginnt damit, dass wir die Dominanz, die unser Alltagsgeist über unseren Körper ausübt, zurückfahren. Er gibt seine Kontrolle über den Körper auf, indem er seine Intention schrittweise zurücknimmt. Dieser Vorgang ist mit dem ganzen Körper verbunden und hat auf die Muskeln eine Wirkung, die am besten mit dem Wort schmelzen beschrieben wird. Natürlich ist Sinken auch eng mit dem Vertikalen Kreis verbunden. Dabei gilt es, auf den Prozess der Muskelveränderung zu achten, die Aufmerksamkeit richtet sich nach innen und unten, der Geist entspannt sich und wird tiefer, Körper und Energie sinken, während innere Kraft entsteht und eine Druckwelle durch den Körper nach
oben steigt.

Leere tritt auf, sobald das Sinken sein Limit erreicht. Der Geist ist zwar mit dem Körper verbunden, aber bar aller oberflächlichen Intention. In diesem Stadium sind wir empfänglich für unseren Tiefen- oder Leeren Geist oder unseren Herzgeist Xin, wie er in China heißt. Chinesen gilt das Herz als Sitz des Denkens, der Gefühle und als Vermittler zu höheren Welten. Davon zeugen noch heute übliche Redewendungen: Kopfrechnen ist im Chinesischen „Herzrechnen“, jemand, dem man einen klaren Durchblick bescheinigt, hat „Zahlen im Herzen“ und wenn wir sagen, uns ist ein Licht aufgegangen, geht einem Chinesen „ein Fenster im Herzen auf“.1

In diesem Zusammenhang mag es interessant sein, dass Joseph Chilton Pearce, ein US-amerikanischer Autor, im Umfeld der Transpersonalen Psychologie, das Herz des Menschen für das wichtigste Intelligenzzentrum hält. Er sagt, dass Neurokardiologen festgestellt haben, dass 60 bis 65% der Herzzellen Neuralzellen und keine Muskelzellen sind, wie man bisher angenommen hat. Sie sind mit den Neuralzellen im Gehirn identisch. Die Hälfte der Neuralzellen des Herzens verarbeiten Informationen, die ihnen von überall im Körper übermittelt werden. Sie sorgen dafür, dass der Körper als harmonisches Ganzes funktionsfähig bleibt. Die andere Hälfte stellt Neuralverbindungen zu unserem emotionalen Gehirn her, die einen ständigen Dialog zwischen Herz und Gehirn sicherstellt. Die Intelligenz des Herzens zeichnet sich durch Synthese, Transparenz und Kohärenz aus. Kohärenz meint das harmonische Zusammenschwingen lebender Systeme. Die Wissenschaft entdeckte, dass in solchen Systemen keine Energie verloren geht. Der Informationsaustauch funktioniert lückenlos, es gibt keine Blockaden und keine Reibungsverluste.

In ungewöhnlichen Situationen des Lebens kann der Tiefe Geist plötzlich von selbst auftreten. In einer lebensbedrohlichen Situation zum Beispiel kann eine große Klarheit auftauchen, man empfindet keine Angst, das Zeitempfinden verlangsamt sich, ein Geschehen, das tatsächlich nur Sekunden dauert, wird in allen Einzelheiten wahrgenommen, das Empfinden für sich selbst ist deutlich vom Körper verschieden, so dass der Eindruck entstehen kann, man hat sich von seinem Körper getrennt.

Beim Üben von Taiji wird es in der Regel so sein, dass selbst wenn wir in einem guten Übungszustand sind, also mit unserer Tiefendimension in Kontakt sind, immer noch Anteile unseres oberflächlichen Geistes mit all seinen Intentionen vorhanden sein werden. Aber in dem Maße wie es uns gelingt, die Intention des oberflächlichen Geistes zu reduzieren, wird die Intention des Herzgeistes stärker werden
und die Kontrolle über den Körper übernehmen.

Etwas Vergleichbares schreiben die beiden Taiji-Experten Shi Ming und Siao Weijia in ihrem Buch „Wie Weiches über Hartes siegt“ : „Mit der Verfeinerung von Geist und Körper ist das höchste Ziel aber noch nicht erreicht. Auf einer höheren Stufe gilt es, sich des Bewusstseins zu bedienen und nicht mehr der physischen Kraft und auf einem noch höheren Niveau gilt es, die bewusste Absicht auszuschalten. Das
Unbeabsichtigte sei das Allerhöchste und Bewusstsein ohne bewusste Absicht sei das wahre Bewusstsein.“2

Taiji-Meister Ma Yueliang (1901-1999) aus Shanghai sagt in diesem Zusammenhang: „Yi (Absicht, Intention, Wille) sollte dem Körper vorausgehen, aber dieses Üben, das den Schülern der Inneren Schule vorbehalten ist, sollte letztendlich zur höchsten Stufe führen. Das Höchste ist, wenn keine Intention vorhanden ist, aber das Richtige einfach auf natürliche Weise von selbst geschieht. Wenn ich jetzt die
Taiji-Form übe, ist mein Geist vollständig leer wie in der Meditation.“3

In diesem Zustand wird jede Bewegung eine zutiefst intelligente Antwort auf die wahrgenommene Situation sein. Bei Bedarf reagiert man spontan situationsgerecht. Letztendlich mündet alles Bemühen im Taiji in der Versenkung in die Weite, Stille und Leere des Dao. Das Herz muss still, absichtslos und leer werden, um eins zu werden mit dem Dao.

1 Gudula Linck. Yin und Yang. Verlag C.H. Beck, München 2000, S. 71 (hier im Shop erhältlich)
1 Shi Ming, Siao Weijia. Wie Weiches über Hartes siegt. Aurum Verlag 1998, S. 58
1 Patrick Kelly, Unendliches Dao, S. 306

Dies ist ein Auszug aus dem Buch "Tai Chi von A-Z - Ein gutes Leben" das hier im Shop erhältlich ist.

"Der Titel hält, was er verspricht: fundierte Auskünfte über den Weg zu einem guten Leben mit Taiji, einer der schönsten chinesischen Bewegungs- und Lebenskünste, die Axel Dreyer seit über 40 Jahren praktiziert und lehrend weitergibt. Beides, Lernen und Lehren, greift ineinander und hört nie auf.

Das Buch, biographisch inspiriert und  alphabetisch nach Stichworten geordnet, nimmt die Leser mit auf eine Reise von A wie „Anfang“ bis Z wie „Zürich“; von „Effektiver Übungspraxis“ über „die Inneren Sinne“ bis „Push Hands“ und „Spiritualität“;

Die Melange aus Selbst- und Unterrichtserleben, aus Prinzipien und eigenleiblichem Spüren, aus autobiographischem Rückblick und Philosophie des Dao, aus westlichen und fernöstlichen Weisen von Spiritualität, aus diskursiven und poetischen Texten… ist es, die Axel Dreyers Buch von anderen Taiji-Büchern unterscheidet – zudem lesefreundlich und tiefsinnig, kritisch und selbstkritisch, humor- und liebevoll. 

Ich garantiere, dass Sie das Buch so schnell nicht beiseitelegen. Es gibt dem Wunsch nach Selbstkultivierung mit Taiji neue Nahrung, die nicht stehenbleibt bei der Sorge um sich, sondern hinauszielt auf soziale, ökologische und kosmische Bezüge." aus dem Geleitwort von Sinologin Prof. Dr. Gudula Linck


Axel Dreyer

Mit über 45 Jahren Erfahrung zählt er zu den Pionieren des Taiji im deutschsprachigen Raum. Er unterrichtet in eigener Schule in Freiburg (Breisgau)  den Yangstil in der Tradition von Yang Cheng-Fu, Zheng Manqing, Huang Xingxian und Patrick Kelly. Außerdem Ausbildungen in Qigong, F.M. Alexander-Technik und Releasing,

Homepage: www.dreyer-freiburg.de

e-mail: axel.3er@gmail.com