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Taiji und Musik – Den richtigen Ton finden

26.12.2021 14:57

Ein Gastbeitrag von Klemens J.P. Speer, Osnabrück

Die Vermarktung des Übungssystems und das eigene Üben

Tendenziell kann festgestellt werden, dass sowohl in China, durch eine Öffnung für die westliche Marktwirtschaft, als auch im Westen Qigong und Taijiquan immer mehr kommerzialisiert werden. Es gehört fast schon zum Standard, dass zu einer bestimmten Taiji-Übungsreihe gleich ein Taiji-T-Shirt, ein Taiji-Anzug, ein Taiji-Poster, eine Taiji-CD, ein Taiji-Video usw. mitgeliefert wird.
Letztendlich ist nichts gegen all diese Utensilien einzuwenden, soweit sie wirklich für das eigene Üben hilfreich sind. Es entsteht aber schnell der Eindruck, dass, wenn diese Taiji-Utensilien erst mal erworben wurden, das eigentliche Üben von Taiji gar nicht mehr so wichtig bzw. erforderlich ist. Taiji befindet sich ja dann bei mir zu Hause im Schrank, und dann kann doch nichts mehr schief gehen - getreu dem Motto: Was du gekauft hast, ist dir erst mal sicher, und du kannst es getrost nach Hause tragen. Und wenn dann alles einmal ausprobiert worden ist und festgestellt wurde, dass es trotz aller Utensilien mühselig ist, exakte Übungssequenzen zu lernen, kann das Üben von Taiji gleich wieder vergessen werden. Oder es beginnt eine neue Suche nach einer einfacheren Übungsreihe oder dem ultimativen Übungspaket. Es werden also mit dem Taiji äußere Dinge vermarktet, die oft nur sehr wenig dazu beitragen oder sogar davon abhalten oder störend sein können, wirklich mit dem regelmäßigen Üben zu beginnen und nach innen zu gehen, nach innen zu spüren. Dennoch: Jeder muss selbst entscheiden, was für die Motivation stärkt und für das eigene Üben hilfreich ist.

Üben mit und ohne Musik – Rhythmus und Resonanz

Heute ist es nicht nur im Westen, sondern auch in China vielerorts üblich geworden, Qigong oder auch Taijiquan mit Musik zu unterrichten oder zu üben. In China wird Qigong und Taijiquan häufig auf großen Plätzen im Freien mit lauter, fast lärmender Musik geübt. Und auch bei uns wird in Kursen und Seminaren in geschlossenen Räumen Taiji-Musik oder Entspannungsmusik beim Üben und im Unterricht eingesetzt.

 Es soll hier die Frage behandelt werden: Wie sinnvoll ist es, im Qigong und in Taijiquan-Kursen und Seminaren mit Musik zu arbeiten? Inwieweit kann also Musik beim Üben von Qigong oder Taijiquan wirklich hilfreich sein? Kann Musik, die einen entspannenden Rhythmus vorgibt, Übenden selbst zu mehr Entspannung verhelfen? Kann sie insbesondere Anfängern helfen, den Einstieg in eine langsame und oft als fremd empfundene Bewegungsweise zu finden?

Wenn Musik beim Taiji-Üben verwendet wird, sollte es sicherlich keine schnelle, rhythmische Musik sein. Sondern es sollte sich um sanfte Entspannungsmusik handeln, die auf Rhythmen möglichst ganz verzichtet. Wenn die Musik einen sanften Rhythmus enthält, sollte dieser dem Atemrhythmus angepasst sein und mit dem Herz-Rhythmus mitschwingen. Aber selbst dann ist es immer noch ein vorgegebener Rhythmus, der von außen auf Lehrer und Schüler einwirkt und vom eigenen Rhythmus sehr ablenken kann. Es geht aber beim Taiji unter anderem ganz zentral darum, seinen eigenen Rhythmus zu finden und sich im Kontakt mit seinem eigenen Atemrhythmus zu bewegen. Davon kann Musik, egal welcher Art, sehr ablenken.

 Aber auch beim Üben ohne Musik gibt der Lehrer einen bestimmten Bewegungsrhythmus vor und die Schüler folgen diesem Rhythmus und stellen sich auf den Rhythmus des Lehrers ein. Unter meditativen Gesichtspunkten kann es sehr sinnvoll sein, von seinem eigenen Rhythmus loszulassen und sich ganz auf den Rhythmus des Lehrers bzw. der Gruppe einzuschwingen, also von seinem eigenen Ego loszulassen. Vorausgesetzt, der Lehrer ist wirklich dazu in der Lage, einen entspannten Rhythmus vorzugeben, bzw. zu einem entspannten Rhythmus hinzuführen. Aber auch der Rhythmus des Lehrers ist nicht immer derselbe, er ist mal schneller und mal langsamer. Auch die Schüler selbst haben beim eigenständigen Üben im Unterricht ihren jeweils eigenen Übungsrhythmus. Und beim Üben in der Gruppe entwickelt die Gruppe als Ganzes wieder einen ganz eigenständigen eigenen Rhythmus, der sich von Übungsstunde zu Übungsstunde, von Übungstag zu Übungstag verändern kann und von sehr vielfältigen äußeren und inneren Bedingungen beeinflusst wird. Es ist also ein sehr sensibler Prozess in der Gruppe und zwischen Lehrer und Schüler notwendig, um Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, sich auf einen gemeinsamen Übungsrhythmus einzuschwingen. Aufgabe des Lehrers ist es, diesen Prozess bewusst und intuitiv zu steuern, indem er eine entspannte Atmosphäre schafft. Das setzt natürlich voraus, dass er selbst möglichst entspannt, gelassen und heiter ist und so eine angenehme Atmosphäre des Lernens schaffen kann, die fordert, aber nicht überfordert, spielerisch und heiter sich Neuem nähert und immer wieder in entspannte und konzentrierte Übungsabschnitte einmündet.

Musik für unterschiedliche Gruppen - Musikauswahl

Taiji-Musik kann, insbesondere in Anfängergruppen und in Anfangsphasen des konzentrierten Übens in einer Gruppe, hilfreich sein, wenn sie sensibel und gezielt eingesetzt wird. Sie kann dazu beitragen, den Schüler aus der hektischen Arbeitswelt oder dem stressreichen Alltag abzuholen, und ihn wieder einstimmen auf die Wahrnehmung seiner selbst. Das setzt voraus, dass der Lehrer selbst gern mit Musik in seinem Unterricht arbeitet und das richtige Gefühl bei der Auswahl der Musik für den Einstieg findet. Es muss “seine Musik” sein, und er muss dabei gleichzeitig den Geschmack seiner Schüler, seiner Gruppe treffen, und dies kann in jeder Gruppe anders ausfallen. Auch freie entspannte Bewegung nach entspannender Musik oder Tanz nach rhythmischer Musik kann für Anfänger zum allgemeinen Ankommen und Lockern beitragen. Das sollte aber nur sehr kurz geschehen, denn Taiji ist kein rhythmischer Tanz. Für die langsam fließenden Bewegungen ist natürlich wichtig, eine Musik auszuwählen, die möglichst von der ganzen Gruppe als angenehm empfunden wird. Nicht jeder Übungsteilnehmer mag jede Musik und nicht jeder Übungsteilnehmer ist von chinesischer Taiji-Musik begeistert, sondern ganz im Gegenteil ist für viele Menschen chinesische Musik sehr gewöhnungsbedürftig und kann dann vielleicht sogar zu einem gegenteiligen Ergebnis führen. Oder sie kann erheblichen Widerstand gegen die Übungen erzeugen, die dann von der Musik ausgelöst wurde. Genauso wie es manchen Schülern schwerfällt, sich auf den Rhythmus seines Lehrers einzustellen, genauso schwer kann es dem Schüler fallen, sich auf eine Musik, die vom Lehrer ausgesucht wurde, einzustellen. Hier wird man schnell feststellen, dass auch Lehrer und Schüler zueinander passen müssen. Nicht jeder Schüler fühlt sich von jedem Lehrer angesprochen. Es muss also so etwas wie eine positive Resonanz zwischen Lehrer und Schüler entstehen, dabei kann Musik in der Anfangsphase vielleicht hilfreich sein. Diese Resonanz muss aber auch ohne Musik vorhanden sein, sonst ist kein positives Lehrer-Schüler-Verhältnis, keine fruchtbare Zusammenarbeit möglich.

 Eine besondere Rolle spielt der Einsatz von Musik sicherlich bei Taiji-Kinder-Gruppen oder bei Taiji für Jugendliche, die über Musik schneller angesprochen werden können, wenn sie die Musik mögen. Es sollte dann auch immer wieder dieselbe Musik gespielt werden, weil es dann schneller möglich wird, sich durch dieses Ritual auf Entspannung einzustellen, wenn immer wieder zu bestimmten Bewegungen eine bestimmte Musik läuft. Dann stellt sich der ganze Mensch, der ganze Körper und das Gehirn auf die gewohnten Signale ein, wodurch ein Entspannen schneller möglich wird.

Üben ganz in der Stille - zur inneren Musik

Meine eigene Erfahrung im Taijiquan ist, dass ich lieber ohne Musik arbeite und versuche, eine entspannte, gelassene und heitere Atmosphäre des Lernens und Lehrens zu schaffen, in der man über sich selbst und seine Unbeholfenheit lachen kann und trotzdem Freude empfindet bei den langsamen Taiji-Bewegungen. Ich habe den Eindruck, dass mir das auch in meinen Anfängergruppen gut gelingt.

Vielleicht wäre es aber auch für mich am Anfang meiner Arbeit hilfreicher gewesen, in Anfängergruppen mit Musik zu arbeiten. Da ich mich in meinen Unterrichten aber an der Tradition meines Lehrers orientiert habe, habe ich das nicht getan und nur wenig mit Musik im Taiji experimentiert, obwohl ich mich selbst gern nach Musik frei bewege und tanze.

Exkurs: Meine persönlichen Erfahrungen mit Musik und Bewegung kommen also überwiegend aus dem freien Tanzen. Jeder wirklich gute freie Tänzer weiß, dass er auch vollkommen eins werden kann mit der Musik, wenn die Musik ihn im Herzen berührt, und er dazu in der Lage ist, sich ganz dem Rhythmus der Musik hinzugeben. Der Rhythmus der Musik und der Rhythmus des Tänzers fallen dann in EINS zusammen, egal ob er rhythmisch oder unrhythmisch ist. Das setzt aber voraus, dass der Tänzer sich frei dazu bewegen kann. Bei schneller rhythmischer Musik, die den Rhythmus des eigenen Atems überdeckt, und freier Bewegung kann man selbstverständlich nicht mehr von Qigong, Tajii oder Taijiquan sprechen. Auch den Begriff “Qigong-Dancing” nach Musik halte ich eher für irreführend, weil hier versucht wird, zwei völlig unterschiedliche Ansätze zu mischen.
Anders ist es beim sogenannten „therapeutischen Qigong“, das mit freier Bewegung ohne vorgegebene Formen arbeitet. Dabei geht es darum aus der Stille und ganz von innen heraus sich eine Bewegung entfalten zu lassen.

Mir geht es in meinen Taiji-Kursen und Seminaren jedoch darum, so etwas wie eine innere Musik der Heiterkeit und Gelassenheit zu erzeugen, die sich auf die Bewegung im Einklang mit dem Atemrhythmus überträgt bzw. mit ihr zusammenfällt. Als ungünstig für ein entspanntes Üben empfinde ich eine zu ernste, fast verkrampfte oder verbissene Atmosphäre des Übens, die z.B. zu sehr darauf gerichtet ist, alles richtig zu machen. Sie erzeugt eine tote und starre oder angespannte Stille. Stille kann und sollte heiter und lebendig sein! Insbesondere das Üben in der freien, durch technische Geräusche ungestörten Natur kann zu einem wirklichen Erlebnis von „natürlicher Musik“ werden. Das Üben in der Morgendämmerung und das Üben in der Abenddämmerung, wenn man wirklich voll und ganz im eigenen Rhythmus der Bewegung mitschwingt, birgt so viel an ungeahnter Musik in sich, dass eine äußere Musik nicht mehr notwendig, sondern sogar vollkommen überflüssig erscheint. Und diese Erfahrung deckt sich mit der Tradition des Taijiquan: Im fortgeschrittenen Üben ist keine äußere Musik erforderlich. Taijiquan wird schweigend geübt! Schweigendes Üben ist Musik! Es geht im meditativen Aspekt des Taijiquan um die Hingabe an den eigenen Bewegungs- und Atemrhythmus und um das Einswerden mit beidem, mit sich selbst und dem ganzen Kosmos, dem Dao.
 


Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem 1. Buch der Reihe „Die fünf Bücher das Dao“ mit dem Titel: „Taijiquan und Qigong – Meditation in Bewegung als Übungs- und Lebensweg – Von der Welle getragen.“, das 2014 im Lotus-Press Verlag erschienen ist und hier im Buch-Shop bestellt werden kann.

„Die fünf Bücher des Dao“ vermitteln zusammengenommen ein tiefes Verständnis von Taijiquan, Qigong, Zuowang und Spiritualität. Diese werden reflektiert vor dem Hintergrund der integralen, spirituellen Philosophie Ken Wilbers. So kann es gelingen, die traditionellen asiatischen Übungssysteme aus einer ganzheitlichen Sichtweise zu verstehen. Westliche naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden dabei u.a. ebenso mit einbezogen, wie westliche Entwicklungspsychologie.

Das erste Buch erläutert wie Taiji (Taijiquan und Qigong) im Westen angemessen integriert werden kann und enthält Abschnitte über: Die verschiedenen Aspekte das Taiji, den Ursprung des Taiji im Daoismus, Taiji und Musik, die feinstoffliche Erfahrung des Qi, Innere und äußere Prinzipien für das Üben, über Daoismus im Westen und über die Wirkungen des Taiji. Nachfolgend also der Beitrag: „Taiji und Musik – Den richtigen Ton finden.“


Klemens Speer ist Zen-Lehrer in der Tradition von Willigis Jäger, Lehrer und Ausbilder für T’ai Chi Ch’uan (DDQT) und Qigong-Lehrer (Netzwerk). Er unterrichtet Taiji (Taijiquan und Qigong) seit 1989 und Zen seit 1994. Er hat seit 1998 viele T’ai Chi-Kursleiter*innen und -Lehrer*innen ausgebildet, die in Niedersachsen

O s t – W e s t – S p i r i t
Institut für sitzende und bewegte Meditation
Zen - Taijiquan - Qigong
Klemens J.P. Speer
Liebigstr. 60, 4974 Osnabrück
www.ost-west-spirit.de