Page 16 - Daniel Grolle: Tai Chi Spielen
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Einführung
Das Kaffeefilterprinzip: Wenn du Was ist eine gute Übung? Eine
kochendes Wasser in eine mit Kaf- gute Übung sollte zielsicher einen
feepulver gefüllte Filtertüte gießt, ganz bestimmten Erfahrungsraum
ist es nur möglich so viel Wasser eröffnen. Sie sollte dir etwas zu-
nachzugießen, wie zuvor durch den gänglich machen, was ohnehin
Filter geflossen ist. schon in dir geschlummert hat, für
So verhält es sich auch mit einem dich aber ohne diese Übung verbor-
Druck, den du deinem Partner in gen geblieben wäre.
einer Übung gibst. Seine Aufgabe ist Wir haben kaum irgendwo so viele
es, deinen Druck in seinen Körper und feine Nerven, wie auf unserer
aufzunehmen und ihn durch seine Zunge. Und deinen Mundraum,
Muskeln, Gelenke und Knochen in wirst du vermuten, kennst du wirk-
die Erde abzuleiten. Ihr werdet fest- lich gut. Es ist kaum vorstellbar, dass
stellen, dass es eine Weile braucht, dir eine große, offensichtliche Struk-
bis dein leichter Druck durch seinen tur in deinem Mund bisher nicht
ganzen Körper bis in die Erde ge- aufgefallen ist. Dazu eine Übung:
langt ist. Dann kannst du vorsichtig Du legst deine Zunge vollflächig
ein bisschen Druck „nachgießen“. und zart an deinen Gaumen als
Erhöhst du deinen Druck zu wolltest du ein kehliges „L“ spre-
schnell, wird der andere ihn nicht chen. Nun beginnst du die Zunge
mehr aufnehmen können. Dein zu- mit ganz kleinen, langsamen rechts
viel an Druck „fließt“ über. Der an- links Bewegungen am Gaumen hin
dere kommt aus dem Stand. und her zu schieben. Diese Bewe-
Erhöhst du dagegen gefühlvoll erst gungen sollten so klein sein, dass
dann deinen Druck, wenn du die Zunge nicht wirklich über den
spürst, dass der andere ihn auf- Gaumen rutscht, sondern sich eher
gennommen hat, könnt ihr schließ- am Ort hin und her wiegt.
lich die beste und kräftigste Verbin- Nach den ersten zehn Bewegungen
dung entdecken, die zwischen euch scheint dir diese seltsame Übung
beiden möglich ist. vielleicht noch sehr unverständlich.
Aber spätestens nach der zwanzig-
sten Schaukel-Bewegung kommt dir
plötzlich etwas zum Bewusstsein
und nach der dreißigsten spürst du
mit unverrückbarer Klarheit einen
deutlichen Grat, mittig längs über
den Gaumen laufen. Die meisten
Menschen haben dieses Körper
Merkmal nie bemerkt. Warum?
Weil es zu offensichtlich ist.
Dieses Phänomen begegnet einem
Taiji-Lehrer unentwegt. Er versucht
den Schülern etwas zu zeigen, was
er durch seine Erfahrung klar und
deutlich spürt, was aber den Schü-
lern oft wie Zauberei vorkommt, bis
sie es selbst entdecken und schließ-
lich auch sicher werden im Spüren
des verborgenen Offensichtlichen.
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